„Wenn die Kinder nicht wären, wären wir schon längst nicht mehr zusammen.“
„Ich weiß nicht, warum ich ihn/sie überhaupt geheiratet habe.“
„Wir sind ein tolles Team, aber ansonsten… Sex haben wir schon lange nicht mehr.“
Das Leben ist manchmal kein Ponyhof. Auch nicht für Liebespaare. Beide versuchen händeringend, allen Ansprüchen gerecht zu werden: Beruf, Kinder, Hypotheken, Instagram, (Schwieger-) Eltern, Freunde.
Wenn der Druck zu sehr wächst, kann es verführerisch sein, Verstecken und Manipulieren zu kultivieren. Gedanken und Gefühle werden verborgen, stattdessen treibt man Spiele mit Sprüchen und Sarkasmus. Es folgen Enttäuschungen über nicht erfüllte Erwartungen, die Gespräche dümpeln auf dem Level von Wer-Erledigt-Was. Irgendwann nur noch Netflix-Couch, statt Sex-Bett. Nörgeln und Rückzug.
Ein Teufelskreis: Emotionale Distanz führt zu sexueller Distanz führt zu emotionaler Distanz führt zu sexueller Distanz…
Ohne es gewollt zu haben, hat man irgendwann die Abzweigung verpasst und befindet sich auf dem Weg Richtung Verfall: emotional, spirituell, sexuell. Am Wegesrand locken schließlich Affären und Scheidung.
Was nun?
Manche versuchen es mit Paartherapie, was allzu oft nicht fruchtet, wenn das therapeutische Angebot nur auf die Benutzeroberfläche abzielt, statt aufs Betriebssystem. Kommunikations- und Verhandlungstipps werden feilgeboten und Gemeinsamkeiten auf Hobby- und Interessensebene gesucht. Das Eigentliche aber wird ignoriert.
Eine Liebesbeziehung hat nicht dann die größte Aussicht auf Erfolg, wenn die Eigenschaften der Partner besonders gut zusammenpassen (matching). Nein, die Qualität einer Liebesbeziehung ergibt sich aus der Qualität der Art des sich aufeinander Beziehens.
Die Beziehung macht die Beziehung – nicht die Beziehungspartner (d.h. ihre Sammlung von Merkmalen, Neigungen und Präferenzen).
Was heißt das konkret?
Die Quelle einer gelingenden intimen Verbindung ist die Bereitschaft zu Wahrhaftigkeit im Sinne einer radikalen Transparenz:
- Beide sagen: „Das bin ich. Das ist es, wer ich bin.“
- Beide hören zu, wenn der/die andere sagt: „Das bin ich. Das ist es, wer ich bin.“
Beide zeigen sich offen, ganz, ehrlich, wahrhaftig – eben transparent. Sie offenbaren ihre Ängste, Wünsche, Bedürfnisse, Grenzen, Hoffnungen, Wunden und Erfahrungen.
Beide zeigen ihrem Partner ihren ehrlichen Wunsch, ihn/sie so gut wie möglich zu (er-) kennen: emotional, spirituell, sexuell.
Tut das nicht weh?
Ja, manchmal. Denn die Partner erkennen, wo sie nicht auf derselben Ebene sind. Wo sie sich Gedanken über den anderen gemacht haben, die mit dem anderen nicht wirklich etwas zu tun haben. Ein Denken in Kategorien von Du-Bist-Schuld! Aber-Du! Immer! Nie! ist so nicht mehr möglich und zwingt radikal zu Eigenverantwortung. Zum Erkennen, wann und wo man eigenen Kram auf den anderen projiziert, um sich selbst zu entlasten. Auch zeigt sich, wo man den anderen vielleicht zu rosarot sieht, wo man sich was schönredet über den Partner oder die Beziehung. Ja, das ist anstrengend. Ja, das kann weh tun. Deal with it!
Also wozu das Ganze?
Weil es die beste, vielleicht sogar die einzige Chance ist, eine Beziehung zu führen, in der die Beziehung selbst – das Sich-Aufeinander-Beziehen – eine Qualität hat, die eine jahrelange, womöglich lebenslange Beziehung wert ist.
Eine solche Art der Beziehung könnte man als integrierte Beziehung bezeichnen. Sie holt alles in die Beziehung hinein. Auch die Schatten, auch den Schmerz. Eine solche Beziehung spaltet nichts ab. In einer solchen Beziehung haben beide die großartige Chance, durch die Beziehung mit dem anderen ganz zu sein. Zu heilen. Zu erfahren, so, wie man ist, ok zu sein.
Wohin das führt, kann keiner sagen. Garantien gibt es keine. Aber solange eine solche Beziehung dauert, solange ist die Beziehung richtig gut. Kein Raum für Lüge, für Unaufrichtigkeit, für Langeweile, für sexuelle und emotionale Vertrocknung, für Zynismus oder Resignation.
Zum Schluss eine Warnung!
Radikal transparent zu sein, heißt nicht, rücksichtslos negative Urteile über den Partner zu fällen! Wahrhaftigkeit in diesem Sinne bedeutet, transparent zu sein in Bezug auf das, was in einem selbst vorgeht.
Radikale Transparenz ist kein Freibrief zum Gemein-Sein. Radikale Transparenz denkt nicht nur das ICH, sondern immer auch das DU und damit das WIR. Radikale Transparenz meint nicht hemmungslosen Egoismus. Radikale Transparenz spürt oder weiß, wann man die Interessen des Partners über die eigenen stellt. Radikale Transparenz ist die Chance, sich von seinem Partner geschätzt, respektiert und geliebt zu wissen.
Conclusio
Wir kommen aus den unterschiedlichsten Gründen zusammen. Weil wir den anderen heiß finden, klug, schön, interessant. Wir halten ihn/sie für einen guten Vater/Mutter. Die Werte passen zusammen, die Freizeitaktivitäten, die Prinzipien in Sachen Geld, Familie, Politik, Religion usw. Aber…
Ob aus zwei spannenden Menschen eine glückliche Beziehung wird, hat damit erst mal nichts zu tun. Denn wie sich die beiden aufeinander beziehen, finden sie erst dann heraus, wenn sie sich aufeinander beziehen. Erkenntnis by doing.
Ein hervorragender Ansatz, diese Erkenntnis ganz pragmatisch zu einer positiven Erkenntnis zu machen, ist Wahrhaftigkeit im Sinne radikaler Transparenz.
Wenn das für Euch und Eure Beziehung ein guter Ansatz sein könnte, sprecht uns einfach an.
Und wenn Ihr zunächst noch mehr darüber lesen wollt, empfehlen wir die Aufsätze hier und hier von Douglas LaBier, Ph.D., Psychologe und Director of the Center for Progressive Development in Washington, DC.