– Von Julia Kamenik
Der Spruch „Die Zeit heilt alle Wunden“ hat viel Wahres und weckt doch Zweifel in mir. Wenn ich immer nur darauf warte, dass die Zeit alle Wunden heilt, bleibe ich dann nicht in der passiven Opferrolle, in der ich nichts tun kann, außer meine Wunden zu lecken? Manche Wunden heilen vielleicht gar nie, und an Vergebung oder gar Versöhnung ist vor lauter Schmerz, der immer und immer wieder mein Leben bestimmt, nicht zu denken.
Mir wurde Unrecht oder Leid angetan, und ich habe alles Recht der Welt, wütend, verletzt oder traurig zu sein. Und dann? Bleibe ich in diesem Zustand, oder durchlebe ich ihn ganz bewusst? Wir leben in einer Gesellschaft, in der offen gezeigte Gefühle wenig Stellenwert haben. Wir haben wenig sichere Räume, wo Wut, Schmerz und Ärger gelebt und aktiv verarbeitet werden können. Dadurch wendet sich diese Energie nach innen. Sie brodelt und grollt in uns, sie nagt und frisst an unserer Seele, bis sie irgendwann einen abrupten Weg nach außen findet – durch ein verletzendes, gemeines Wort, durch einen boshaften Kommentar in Social Media, eine frauenverachtende oder rassistische Rede und im Extremfall durch einen terroristischer Anschlag, Mord und Femizid.
Wir müssen sichere Container/Settings schaffen, in denen wir unseren persönlichen und kollektiven Schmerz verarbeiten können. Wir können zuhören, um die Zusammenhänge zu verstehen, die es unseren Gegnern ermöglichen, Schaden anzurichten, und wir können diese Informationen nutzen, um Kulturen und Institutionen neu zu erfinden und neu zu entwerfen, die die Würde von uns allen schützen. Die Wunde zu pflegen ist nicht nur moralisch, sondern vor allem auch strategisch: Es ist die Arbeit, um die Welt neu zu gestalten.
Es ist eine aktive, individuelle Entscheidung, den Schmerz und die Trauer zu durchleben, um danach Heilung zu erfahren und eine neue Seite in meinem Lebensbuch aufzuschlagen. Wut und Zorn sind keine Schande! Ich brauche nur einen sicheren Ort, an dem ich meine Emotionen ausleben kann und keinen Schaden anrichte – vielleicht ein Schrank, in dem ich auf ein Kissen schlage, vielleicht ein Kreis von mitfühlenden Menschen, in dem ich meinen Schmerz hinausschreien darf und meine Tränen frei fließen dürfen. Dort bleibe ich, bis ich wieder fähig bin, meine Gegner als Menschen zu sehen und neugierig über sie zu staunen. Was sind ihre unerfüllten Bedürfnisse? Ich kehre zu ihnen zurück um zuzuhören und versuche, die Bedingungen neu zu gestalten, zu verändern. Das gelingt nicht immer, aber oft genug! Wann immer ich in Konflikte mit meinen Partnern, Kollegen oder Freunden gerate: beiseite treten, dem Zorn Raum geben, bis ich zurückkommen kann um zuzuhören und neue Lösungen zu finden. So spüre ich, wie unsere Beziehung wieder auflebt und aufblüht.
Wie wäre es, Verzeihen als eine aktive, mutige Entscheidung zur Selbstliebe zu sehen?
Verzeihen heißt nicht vergessen, sondern bewusst ein Kapitel zu beenden. Werden meine Emotionen, mein Schmerz wiederkommen? Ja, ab und zu werden sie getriggert werden, vielleicht durch ein Erlebnis, ein Wort, einen Gedanken. Und ich darf mich entscheiden zu vergeben. Nicht weil oder erst dann, wenn jemand anderer Reue zeigt, sondern weil ich weiterleben möchte – mit meinem Schmerz im Gepäck. Aber er muss nun nicht ständig präsent sein und mein Leben bestimmen. Vergeben und Versöhnung ermöglichen mir, meine Wunde zu einem Teil meiner Geschichte zu machen. Ich bin meine Geschichte, sie prägt mich und hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich bin. Aber ich schreibe und lebe meine Geschichte auch weiter. Jeden Tag verändere ich sie aufs Neue und bestimme für mich selbst, wie es weitergeht.
„Was, wenn die Dunkelheit, die uns im Schmerz umgibt, keine Grabesdunkelheit, sondern die Dunkelheit der Gebärmutter ist? Was, wenn unsere Zukunft immer noch darauf wartet, geboren zu werden? Breath and push! Revolutionäre Liebe verlangt von uns, zu atmen und durch die Flammen hindurch zu pressen. Du bist mutig!“ (Valarie Kaur)
Dieser Beitrag ist von einem Buch der amerikanischen Aktivistin, Dokumentarfilmerin und Anwältin Valarie Kaur inspiriert. Ich habe „See no Stranger – a Memoir and Manifesto of Revolutionary Love“ Anfang des Jahres gelesen, und die Gedanken zur “revolutionären” Liebe lassen mich seither nicht mehr los. Ihr wunderbarer TED Talk 2017 gibt die zentralen Botschaften wider. Botschaften, die die Welt hören muss!